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Beitrag vom 28.03.2023
ERICA JONG – breaking the wall. Buch und Regie: Kaspar Kasics. Kinostart: 23. März 2023
Ahima Beerlage
Anfang der 1970er Jahre landete die 31jährige New Yorkerin Erica Jong mit ihrem ersten Roman "Fear of Flying" – "Die Angst vorm Fliegen" - einen polarisierenden Welterfolg, der die sexuelle Befreiung von Frauen feierte und forderte. Der Schweizer Regisseur Kaspar Kasics entdeckt die Schriftstellerin 2015 für sich, als sie ihren Roman "Fear of Dying" veröffentlichte. 2018 beginnt er mit dem Dokumentarfilm über die unangepasste Feministin, immer wieder unterbrochen von der Pandemie.
Erica Jong schont weder sich noch andere, als sie mit Anfang dreißig 1973 ihren Roman "Angst vorm Fliegen" herausbringt. Ihre Erfahrungen als freiheitsliebende, sinnliche Frau und ihre ersten Einblicke in den neuen Feminismus inspirieren sie zu dem Buch, das für das puritanische Amerika und besonders für die Männer zur Bedrohung wird.
Erica Jong versus Henry Miller - Doppelter Standard
Keine Frau vor ihr hat so offen und frei von Scham über Sexualität, ihre Liebhaber und die eigenen Begierden geschrieben. Wofür ihr Freund und Kollege Henry Miller gefeiert wird, dafür wird sie als Frau verurteilt und abgewertet. Doch für viele Frauen der 1970er Jahre war ihr Buch ein Befreiungsakt, für das konservative Amerika ein Skandal.
Spuren der Verfolgung
Ein weiterer Aspekt machte diesen Roman so einzigartig - ihre harte und offene Ablehnung zur Nachkriegshaltung der Deutschen in Bezug auf die Verbrechen während der Nazizeit brachte eine neue Qualität in die Literatur. Wie kaum eine andere Schriftstellerin brachte sie ihre Verachtung für den freiwilligen Anschluss Österreichs an das Naziregime in eine literarische Form.
Ihre Familie, selbst vor Pogromen Anfang des Jahrhunderts geflohen, wurde durch die Shoah geprägt. Im Film spricht sie davon, wie sie mit ihrer Schwester spielte, sich vor den Nazis im Schrank zu verstecken. Ihre Oma erklärte, wenn sie ihr die Hände wusch, dass sie ihr die kleinen Deutschen abwasche.
Freigeist und Feminismus
Ihre Eltern, der Vater ist Musiker, die Mutter Malerin und Stoffdesignerin, stärken ihren Töchtern den Rücken, eigene Wege zu gehen. Die Mutter fördert Ericas Schreibbegabung, da sie sich selbst durch ihre Rolle als Mutter nicht so verwirklichen konnte, wie sie es gern getan hätte. Erica lernt schon früh, sich ganz auf ihr eigenes Urteil zu stützen. Sie folgt daher keinem kollektiven Narrativ – auch nicht dem des Feminismus der zweiten Welle in den 1960er Jahren, sich in erster Linie auf die Frauen zu konzentrieren. Sie beschreibt offen ihre eigenen Begierden, ihre Liebhaber und ihre rastlose Suche nach Befriedigung ohne jede Rücksicht auf sich selbst oder ihre Liebhaber und Ehemänner. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bleibt ein wichtiges Leitmotiv für sie bis in die Gegenwart. Vier Ehemänner und zahlreiche Liebhaber liefern ihr genug Stoff für ihre Arbeit. Die Frauenbefreiung, besonders auf der Ebene der (befreiten) Sexualität, bleibt ein Hauptthema in ihrem Schaffen.
Ihr Wissen will sie weitergeben: Sie fördert junge Frauen in dem von ihr gestifteten und unterstützten Schreibinstitut und ist eine eifrige und beliebte Rednerin.
Obwohl sie bis in die Gegenwart viele Bücher veröffentlicht, hat sie nie wieder an den kommerziellen Erfolg ihres ersten Romans "Angst vorm Fliegen" anknüpfen können.
Den Fokus finden - Eine Herausforderung
Über Erica Jong einen Film zu drehen ist für den Schweizer Regisseur Kaspar Kasics von Anfang an eine Herausforderung. Erica Jong redet gern und viel. Sie pflegt ihre gesellschaftlichen Kontakte, veranstaltet Partys, reist zu Vorträgen und zu ihren Lieblingsorten in der Welt. Immer wieder zieht sie sich aber auch zurück. Ruhe findet sie in ihrem Landhaus, beim Schreiben in ihrer Stadtwohnung in New York. Nie wirkt die Kamera dabei, als greife sie in das Leben der Schriftstellerin ein, sondern begleitet sie nur. Einspieler aus Talkshows der 1970er und 1980er Jahre zeigen ihre frühe Wehrhaftigkeit gegen Machoperspektiven. Die wenigen Drehorte in der Gegenwart bringen Ruhe in den Film, geben Raum, das reiche Leben und die jüdischen Wurzeln aus Polen und Russland Erica Jongs zu verstehen. Hauptspielorte bleibt ihre mit Kunst und Büchern überquellende Wohnung in New York, von der sie aufbricht zu einem Besuch in dem von ihr initiierten Schreibzentrum, wo sie sich mit jungen Frauen unterhält und zu Besuchen im Buchladen. Der ruhige Teil ihres Lebens zusammen mit ihrem aktuellen Ehemann findet in ihrem Landhaus statt. Am Ende des Films begleitet die Kamera sie bei einem Besuch in Venedig. Sie wandert durch die Straßen des alten jüdischen Ghettos und gleitet durch die Kanäle, während sie über ihre jüdische Identität spricht.
Lockdown als Symbol
Regisseur und Schriftstellerin lassen den Film zu einem einzigartigen Zeitzeugnis werden, denn mitten im Produktionsprozess gerät New York in den Lockdown, Filmemacher und Porträtierte werden im Produktionsprozess ausgebremst. Bilder aus den leeren Straßenschluchten von New York geben dieser jähen Unterbrechung ein Gesicht. Der Film, thematisch geordnet und nicht immer chronologisch, wechselt zwischen quirligem Gesellschaftsleben und Eingeschlossenheit. Dabei wird dieser Wechsel zum Symbol für einen inneren Konflikt, den Erica Jong immer wieder mit sich ausfechtet, wenn sie erklärt, jede Schriftstellerin befinde sich im Kampf mit der Nicht- Schriftstellerin in sich. Die Schreiberin lockt, doch zu einer Party zu gehen und zu trinken. Vielleicht liegt ja gerade in dieser Party die nächste Inspiration. Die Schreiberin zweifelt daran und will weiterschreiben. Und so kollidierten immer Realität und Fantasie in einer Person.
Erica Jong ist noch nicht fertig. Das zeigt der Film. Aktuell arbeitet sie an ihrer Autobiografie. Warum sie mit über achtzig Jahren weiter macht? Warum sie das Schreiben junger Mädchen und Frauen fördert? Dazu Erica Jong: "Wir vermissen die Hälfte des kreativen Potentials der Menschheit. Wir können es uns nicht mehr leisten, die Gedanken und Gefühle der Frauen zu verschwenden."
AVIVA-Tipp: Erica Jong brachte wie keine andere Schriftstellerin der 1970er Jahre die Sexualität von Frauen und Männern aus der Perspektive einer Frau zu Papier. Ihr Lebensziel bleibt die sexuelle Befreiung der Frauen. Der Schweizer Regisseur Kaspar Kasics hat ihr ein sensibles Portrait gewidmet, bei dem er das Kunststück fertigbringt, ihr als Mann die Bühne zu überlassen, ohne über sie zu urteilen. Unwillkürlich ist dabei auch ein Zeitzeugnis für die Produktionsbedingungen während des Lockdowns entstanden.
ERICA JONG – breaking the wall
CH 2022, Produktion, Buch und Regie: Kaspar Kasics
Musik: Roger Eno
Koproduktion: Schweizer Radio und Fernsehen SRF, Redaktion Urs Augsburger
Verleih: VINCA FILM, Zürich
World Sales: RISE AND SHINE, Berlin
96 Min.
Kinostart: 23. März 2023
Mehr Infos und Kinotourtermine unter: riseandshine-cinema.de/portfolio/erica-jong sowie auf www.ericajong.com
Über Erica Jong: 1942 in New York geboren. Lebt in der Upper Eastside in New York. Ihre jüdischen Großeltern sind Anfang des 19. Jahrhunderts vor Armut und Pogromen aus Polen und Russland ausgewandert. Ihre Eltern lernten sich in den 1930er Jahren in New York kennen. Ihr Vater war Musiker, die Mutter Malerin und Designerin. Erica Jong hat zwei Schwestern. Alle Töchter erhalten eine gute Ausbildung, Erica Jong absolviert die Columbia University, heiratet vier Mal und bekommt eine Tochter. Die junge Schriftstellerin landete mit ihrem ersten Roman 1973 "Fear of Flying" einen Welterfolg mit über 40 Millionen verkauften Exemplaren, übersetzt in zahlreiche Sprachen. Die Freundin und Kollegin von Henry Miller wird bis heute für ihren offenen Umgang mit Sexualität und Sehnsüchten in ihren Büchern gleichermaßen gehasst und geliebt.
Weitere Veröffentlichungen (Auszug): "Sugar in my bowl: echte Frauen schreiben über echten Sex" (2017), "Angst vorm Sterben" (2016), "The bathroom chronicles" (2017), "Den Dämon verführen" (2006), "Keine Angst vor Fünfzig" (1998), "Sappho" (2005), "Der letzte Blues" (1992); "Rette sich wer kann" (1991), "Fanny" (1989)
Über den Regisseur: Kaspar Kasics ist aufgewachsen in Zürich, hat am Konservatorium in Basel und Zürich Musik studiert. Germanistik, Philosophie und Geschichte hat er an der Universität Zürich studiert und promoviert. 1984 bis 1989 war er Redakteur und Moderator beim SRF. Von 1996 bis 2001 und von 2010 bis 2017 war er Präsident des Verbandes Filmregie und Drehbuch Schweiz, 2006 zehnmonatige Reise nach Südostasien, 2007 Fotoausstellung in Berlin. Mitglied der Eidgenössischen Filmkommission und der Kulturkommission der Suissimage. Seit 1984 dreht er zahlreiche Dokumentarfilme. Sein Dokumentarfilm "ERICA JONG – breaking the wall" feierte seine Weltpremiere auf dem diesjährigen Filmfestival in Locarno.